Wer hat das Problem?

Mein Hund hat ein Problem – oder?

Mitunter frage ich mich, ob das, was ich als Problem bei meinem Hund ansehe, für ihn tatsächlich eins ist.
Ein winziges Erlebnis bei einem Spaziergang hat mich zum Nachdenken gebracht …

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Es war ein regnerischer Tag, an dem wir die Gassirunde etwas kürzer hielten und uns schon bald auf den Heimweg machten. Die Kapuze ins Gesicht gezogen, sinnierte ich vor mich hin, während Pinto neben mir ausgiebig ein Stück Hecke beschnupperte.

Plötzlich bog jemand mit einem kleinen Hund um die Ecke und tauchte direkt vor uns auf. Ich schreckte hoch und Pinto begann, aufgeregt zu bellen. Die andere Frau und ich hielten unsere Leinen fest, vergrößerten zügig den Abstand und setzten dann unsere Wege in unterschiedliche Richtungen fort.
Mehr geschah nicht.

Es hätte auch überhaupt nichts in mir ausgelöst, wenn es sich um ein einmaliges Ereignis handeln würde.

Dass ich die Person und den Hund nicht kommen sah, ist tatsächlich ungewöhnlich, weil ich meine Antennen üblicherweise viel stärker ausfahre und entsprechend aufmerksamer bin. Was ich aber oft erlebe ist, dass Pinto andere Hunde anbellt, wenn er an der Leine mit mir unterwegs ist.


In diesem Moment geht es mir nicht so sehr darum, warum er es tut, sondern darum, was es in MIR auslöst.

Und es geht mir um das Bewusstsein dafür, wie unterschiedlich das Erleben einer Situation für den Menschen und den Hund sein kann.

Das wurde mir nach dieser Begebenheit schlagartig klar.
Es dauerte nämlich keine 10 Sekunden, da fuhr Pinto mit seiner Lieblingstätigkeit fort und schnupperte schon wieder an einer anderen Stelle. Die Begegnung von eben war Vergangenheit und für ihn offenbar abgeschlossen.

Vermutlich hätte man bei einer Messung durchaus noch einen erhöhten Erregungszustand bei Pinto festgestellt. Sicherlich war sein System damit beschäftigt, die Begebenheit zu verarbeiten und irgendwo zu speichern. Und bestimmt half ihm dabei auch die Fortsetzung des eifrigen Schnüffelns.
Ich glaube aber nicht, dass er darüber hinaus eine Reflexion über die Sache anstellte.
Alles, was ich beobachten konnte, war ein Hund, der die Nase schon wieder an einem Strauch hatte.
Er wirkte auf mich sehr gegenwärtig – in seinem Aufruhr von eben genauso wie in seinem jetzigen Vertieftsein.


Ich stand daneben und hatte so etwas wie eine Mini-Erleuchtung ob dieser Tatsache. Denn in mir sah es vollkommen anders aus.

Ich war weit davon entfernt, im Moment zu sein.

Erst die Öffnung meines Bewusstseins, das plötzliche Gewahrwerden, wie unterschiedlich mein Hund und ich die gleiche Situation offenbar erleben und verarbeiten, ließ mich wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren.
Davor war ich gefangen in meinem eigenen Film.
Als hätte der Filmvorführer im Bruchteil einer Sekunde auf den Knopf gedrückt und mir zum x-ten Mal „Warum-bellt-mein-Hund-an-der-Leine-andere-Hunde-an?“ gezeigt. In den Hauptrollen: Pinto und Tina.


Und das Drehbuch habe ich selbst geschrieben, wenn auch eher unbewusst.

Es ist entstanden aus alten Mustern und neuen Glaubenssätzen, die ich mir in den letzten Jahren, seit Pinto bei uns ist, angelesen, angehört und angeeignet habe. Glaubenssätze, die ausdrücken, was ein Hund darf und was nicht, wie er sich zu verhalten hat und wie sein Mensch darauf (richtig!) reagieren sollte.

In meinem Film kommen auch Schlagworte wie „Leinenaggression“ oder „Pöbeln an der Leine“ vor, begleitet von Untertiteln, die wahlweise lauten: „Das darf er nicht“, „Das musst Du unterbinden“ oder: „Du hast deinen Hund nicht im Griff“.

Und darunter ein – unsichtbares - Laufband mit begleitenden Emotionen wie Scham, Schuld, Ärger, Wut und Trauer.

 

Während ich dies schreibe, werde ich wieder traurig, aber auch wütend. Weil dieses Gedanken- und Gefühlskarussel mich so anstrengt, während mein Hund einfach bellt und schnuppert, wenn ihm danach ist. Zack-zack. Eben das eine, jetzt das andere. Ohne Film. Ohne Glaubenssätze. Und ohne eigene Be- und Verurteilung.

Kann ich im Moment sein, so wie er? Aufmerksam und präsent?
Und hinter all dem Aufgerührtsein die Ruhe in der Mitte meines Körpers spüren? Den Teil, der sich nicht beirren lässt, sondern der einfach wahrnimmt, agiert, re-agiert oder schweigt, geschehen lässt. Aus dem Augenblick heraus, ohne Plan und Drehbuch.


Kann ich wieder zurückkehren zu mir und meiner Unschuld, und der Unschuld meines Hundes?

„The great undoing“, nennt Byron Katie es, wenn Gedanken überprüft und auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden. Und wenn sie dann gehen – oder auch nicht. Sie bleiben so lange sie bleiben und verschwinden von alleine, wenn sie überflüssig geworden sind. Sie lassen mich los, wenn es an der Zeit ist.


Wenn mein Hund wirklich ein Problem hat, bei dem er meinen Beistand braucht, dann werde ich das wissen.


Und natürlich helfe ich ihm dann.
Zuerst aber sollte ich mir selbst helfen.

Dazu gehört, mir klar darüber zu werden, in welchem Film ich mich gerade befinde. Denn je besser mir das gelingt, desto mehr lebe ich nach meinem eigenen Drehbuch.
Ich muss dann nicht länger das Leben der anderen nachspielen, sondern darf auf mich und meine innere Stimme lauschen.
Sie meldet sich unermüdlich und schickt mir Impulse. Wie auch an jenem Tag, als ich plötzlich aufmerkte und mir meiner Selbst bewusst wurde.
Sie hilft mir, meine eigene Wirklichkeit auszudrücken und mich mit Neugier und Freude dem Leben – und meinem Hund – zuzuwenden.

Und wer weiß … vielleicht belle und schnuppere ich einfach mal mit ihm zusammen. Alles ist möglich! ❤️